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Aller Tage Infoabend

 

„Kommen wir zum Tagesordnungspunkt 1“, eröffnet Pflegerin Merle den Kinderabend Punkt 19.30 Uhr. Es ist der erste dieser Abende für mich; meine Oma ist der Neuzugang des Seniorenheimes „Kap der Guten Hoffnung“. Bisher unterscheidet sich dieser Infoabend nicht groß zu jenen, die man aus Kindergarten und Schule kennt - abgesehen davon, dass der Stuhlkreis um einiges bequemer ist. Die dreißig Jahre alten Sessel der Empfangshalle sind zwar etwas abgenutzt und verblichen, bieten dennoch einiges mehr an Beinfreiheit und Rückenkomfort als die kleinen Kinderstühle aus Holz.

 

Zu Beginn bekam jedes anwesende Kind oder Kindeskind ein Handout, welches die bevorstehenden Termine der nächsten drei Monate ausweist (ganz so weit im Voraus wird hier nicht geplant).

Der Veranstaltungsplan kündigt mir gleich in der nächsten Woche den Besuch von DJ Rainer an, der für einen peppigen Sound beim Kaffee-Tanz-Nachmittag sorgen wird. Außerdem wird zum Totensonntag eine große Kaffeerunde mit Familienangehörigen geplant. Der leicht makabere Humor gefällt mir und ich überlege, ob dieses Treffen eine Art Probedurchlauf darstellen soll.

 Doch Pflegerin Merle reißt mich aus den Gedanken.

„Es haben sich einige Angehörige über das Essen beklagt und wünschen sich einen gesünderen Menüplan.“

„Wieso? Der Plan ist doch in Ordnung“, wundert sich ein Mittfünfziger im Anzug, der vermutlich direkt von der Arbeit gekommen ist.

„Nun ja, es wurde bemängelt, dass es in letzter Zeit zu häufig Desserts wie Götterspeise und Pudding gab. Als Alternativen dazu wurden Obstsalat und Smoothies vorgeschlagen. Außerdem sollte die Zitronenbiskuitrolle sowie der Butterkuchen am Nachmittag gegen Apfel-Dinkel-Kuchen mit Früchten aus der Region ausgetauscht werden oder gegen zuckerfreie Vollkorn-Frucht-Kopenhagener. Ab und an mal eine Donauwelle ist in Ordnung, doch könnte hierfür eine vegane Variation mit pflanzlicher Sahne auf Sojabasis verwendet werden.“

 

Für den Bruchteil einer Sekunde war es totenstill. Ich kann gerade noch das Schlimmste befürchten, als das unheilvolle Durcheinander auch schon seinen Anfang nimmt.

„Mit Smoothies bin ich einverstanden. Meine Mutter kann eh nicht so gut kauen.“

„Wenn es Obstsalat gibt, aber bitte nur mit kernlosen Weintrauben, wenn Weintrauben mit dabei sind, weil mein Vater mit den Kernen nicht zurechtkommt. Außerdem bekommt er davon Blähungen.“

„Aber die Götterspeise haben doch alle so gern.“

„Wissen Sie, was da alles an Geschmacksverstärkern und Farbstoffen drin ist? Da können Sie ihren Eltern ja gleich noch ein paar Chemie-Pillen extra geben. Das kommt dann aufs Gleich raus.“

„In den neuen Kuchen darf aber nichts mit Nüssen drin sein. Meine Mutter ist allergisch.“

„Mein Vater hat Diabetes.“

„Meiner auch.“

„Meiner hat Cholesterin.“

„Meiner auch.“

„Meine Mutter mag kein Soja.“

„Meine auch nicht.“

 

Pflegerin Merle versucht wieder etwas Ruhe in die aufgebrachte Runde zu bekommen: „Wir könnten doch einfach abstimmen. Wer ist dafür, dass die vorgeschlagenen Änderungen am Menüplan so vorgenommen werden?“ Es melden sich 15 Leute. „Gut. Und wer ist dafür, dass der Menüplan vorerst so bestehen bleibt, wie er jetzt ist?“ Die anderen 15 melden sich. Pflegerin Merle atmet tief ein und legt die Stirn in Falten. „Na gut. Greifen wir das Thema doch zum Schluss noch einmal auf und gehen erst mal zu TOP 2 über: die Wahl der Kindervertreter.“

Die meisten blicken beiläufig zur Seite oder aus dem Fenster. Ich entscheide mich für meine Hände, der Herr neben mir wählt die Decke. Irgendjemand pfeift; sonst ist es still. „Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen“, versichert Merle, „dieser Posten soll nur für ein bisschen Rückmeldung aus der Kinderschaft sorgen und beim Tag der offenen Tür den Kuchenverkauf der Angehörigen organisieren sowie das jährliche Winterbasteln. Das ist schon alles. Am besten stellt sich jemand zur Verfügung, dessen Elternteil noch nicht ganz so alt ist, damit nicht nächstes Mal schon wieder gewählt werden muss.“

„Ich habe das letztes Jahr gemacht und kann das ruhig noch ein Jahr weiter fortführen. Meine Mutter ist erst 82“, meldet sich eine sympathisch wirkende Frau mit gemütlicher Figur und Kurzhaarschnitt zu Wort.

Eine Welle der Erleichterung geht durch die Runde.

„Das ist toll. Vielen Dank, Frau Häuser-Mensle.“ Pflegerin Merle sieht dankbar zu ihr hinüber. „TOP 3: Der Kindergarten kommt auch dieses Jahr wieder, um die Senioren mit ein paar vorgetragenen Liedern passend zur Jahreszeit zu erfreuen. Ein paar Mitmach-Lieder werden auch dabei sein. Wir möchten uns gern erkenntlich zeigen und würden pro Senior 2,00 EUR für ein kleines Dankeschön für die Kinder einsammeln. Sind alle damit einverstanden?“ Die Allgemeinheit nickt.

 

„TOP 4: Die wöchentliche Memory-Runde in der Demenzabteilung wird ausgetauscht. Es dauert einfach zu lange. Da Punkt 18:00 Uhr das Abendessen serviert wird, muss der Raum auch spätestens 17:30 Uhr frei sein. Als Ersatz dafür bieten wir Domino an.“

Heimlich schiele ich auf mein Handy und stelle fest, dass bereits eine knappe Stunde vergangen ist. Wir haben noch TOP 5 und 6 vor uns, sowie das bisher ungeklärte Thema „Essensplan“ und den Punkt „Allgemeines & Fragen“.

 

„TOP 5: Wir planen einen Ausflug und wollen im nächsten Monat mal wieder den Vogelpark besuchen. Wenn Sie damit einverstanden sind, dass sich Ihre Eltern auch selbstständig in kleinen Zweier- oder Dreiergruppen im Park bewegen dürfen, füllen Sie bitte die Erklärung aus, die dem Handout beigefügt ist. Frau Kleibe und Frau Schmanske können uns leider nicht dabei begleiten, da sie nach der Knieverletzung bzw. dem Oberschenkelhalsbruch noch nicht wieder mobil genug sind. Allen, die mit dem Rollator unterwegs sind, wird es freigestellt, ob sie mitkommen möchten oder nicht. Allerdings hätten wir Herrn Wörms wirklich gern dabei. Er kann in der Freiflughalle die Vögel immer so gut füttern und es ist eine Freude dabei zuzusehen.“

Fragend blicke ich auf. „Parkinson“, raunt mein Sitznachbar mir zu, woraufhin ich verständnisvoll nicke.

 

Ein Herr meldet sich. „Ja, bitte, Herr Schlimm?“ „Wie werden denn die Kosten für den Ausflug abgedeckt?“, möchte dieser wissen. „Angesichts der monatlichen Preise für den Platz meiner Mutter hier, möchte ich nicht extra dafür auch noch in die Tasche greifen.“

„Keine Sorge. Wir haben noch einen kleinen Überschuss von den Einnahmen durch unseren Stand auf dem Stadtfest. Davon werden alle Ausflugskosten gedeckt werden, inklusive Kaffeepause.“

„Sie haben auch eine Frage, Frau Ruhnsdorf?“ Das verhaltene Augenrollen einiger der Anwesenden entgeht mir bei der Nennung des Namens nicht.

„Sind unsere Eltern denn auch während des Ausflugs versichert?“

Jemandem entfährt ein halbherzig unterdrücktes Stöhnen.

„Ja, aber selbstverständlich. Alles ist durch die Haftpflichtversicherung des Heims mit abgedeckt. Dann kommen wir doch nun noch einmal auf den Punkt Essensplan zurück … .“ Mit diesen Worten von Pflegerin Merle verabschiedet sich meine Konzentration. Vielleicht döse ich auch ein wenig. …

 

Es ist 22:10 Uhr als ich mich hinters Steuer setze und nach Hause fahre.

Ist doch alles beim Alten - irgendwie.

 

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