· 

Eindrücke eines Streckenabschnitts

 Schon seit fünf Haltestellen hat der Mann eine Vierer-Sitzgruppe für sich allein. Die Frau, die ihm auf der anderen Seite des Durchganges schräg gegenüber sitzt, mustert ihn aus dem Augenwinkel, in der vermeintlichen Annahme, er bemerke das nicht. Doch er weiß sehr wohl, wie die Menschen ihn betrachten.  Heruntergekommen sieht er aus. Furchen durchziehen sein Gesicht. Zudem ist er unfrisiert. Er trägt eine kaputte Jacke, dazu eine speckige Hose und ein verschmutztes Hemd.  Abwesend sieht er aus dem Fenster, beide Hände auf die Knie gelegt, mit dunklen Rändern unter den Fingernägeln, wie die Frau feststellt. Gelegentlich murmelt er etwas vor sich hin.

Sie hatte ihn schon vom Bahnsteig aus bemerkt und war umso erleichterter, ein recht leeres Abteil vorzufinden. So wollte sie ihren Tag nicht beginnen, mit einem Spinner, der eine Fahne hat. Hoffentlich würde er sie nicht um etwas bitten.

 

Der Mann hatte die Frau beim Halt der Bahn kurz taxiert. Gehobene Mittelklasse mit Brille: hohe Absätze, hoher Chignon, hohes Schubladendenken.  Sie hat die Beine übereinander geschlagen. Die schmale Aktentasche liegt auf dem Sitz neben ihr. Gelegentlich nippt sie an ihrem szenigen Coffee-to-go-Becher mit Soja-Kaffee aus nachhaltigem Anbau. Als sie Platz nahm, huschte ihr ein flüchtiger Ausdruck des Bedauerns über die Aufhebung der ersten und zweiten Klasse über´s Gesicht. 

Er ist nur froh, seine Ruhe zu haben. Es ist schwer für ihn geworden, Menschen um sich zu haben, die ein normales oder gar gutes Leben führen.

 

Nächster Halt. Ein Mädchen steigt zu. Schulalter, vielleicht zehn, vielleicht elf Jahre alt, den Rucksack lässig über eine Schulter gehängt. Sie trägt eine zerschlissene Jeans, glitzern verzierte Sneakers, Pferdeschwanz. Ein dünnes Kabel liegt ihr um den Nacken.

 „Hoffentlich setzt die sich mit diesem hämmernden Krach, den die Jugend als Musik bezeichnet, nicht hier hin“, denkt der Mann, als ihm die beiden Ohrstöpsel auffallen.

Was er nicht weiß ist, dass das Mädchen, von zurückhaltendem Charakter, mit Vorliebe die alten Mrs. Marple-Geschichten hört, was der Bewunderung zu ihrer Oma und deren guten Verhältnis miteinander geschuldet ist. Oma fehlt ihr sehr.

 

„Wie die Eltern es nur zulassen können, dass ihre Kinder so rumlaufen“, denkt die Frau. Was sie nicht weiß ist, dass viele, wenn nicht sogar die meisten Trends, diesem Mädchen herzlich egal sind und sie sich einfach nicht von ihrer allerliebsten Jeans zu trennen vermag.

 

Die Schülerin setzt sich in den Vierer zu dem Mann, ihm gegenüber. Vermutlich, weil dieser der Bahntür am nächsten ist. Ein kurzer Blick zur Frau, lässt sie Bewunderung empfinden, für die selbstbewusste, zielstrebige Person, die sie da vorfindet. Die stets geschmackvoll gekleidet, hart gekämpft hat, um sich selbst zu behaupten und in ihrer Karriere voranzukommen.  Dabei ist das Bewerbungsgespräch, zu dem die Frau unterwegs ist, gerade der Auftakt für einen Neuanfang.

 

Fast unmerklich, rutscht der Mann ein wenig dichter an das Fenster, als das Mädchen Platz nimmt. Sie sieht dem Mann kurz ins Gesicht und denkt noch, dass er trotz der Schwermut in seinem Blick, sanftmütige, freundliche Augen hat, bevor sie in Agatha Christies Welt versinkt.

 

Zwei Haltestellen später steigt der Mann aus. Erleichtert darüber, nun doch nicht von lauter Jugend-Musik gestört worden zu sein. Erst als er aufsteht, fällt der Blick der Frau auf die älteren, aber sehr gepflegten Bugatti-Schuhe des Mannes.

 

Das Einzige, was ihm aus einem früheren Leben verblieben ist.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0